Transportertest 6/2016

Mercedes-Benz Vito 119 CDI 4×4 Kasten

Der neue Vito mit Allradantrieb bietet den Komfort einer Chef-Limousine: Mit serienmäßiger Wandler-Automatik, zahlreichen Assistenten und viel Komfort kann sogar der einfache Kastenwagen begeistern.

Mercedes-Benz Vito 119 CDI 4x4 Kasten
Der neue Vito zeigt scharfe Kante. Im Vergleich zum Konkurrenten ist er in den meisten Varianten etwas günstiger, der Einstieg niedriger. (Bild: bd/Domina)

LUL? Nie gehört. Gehen wir das Abkürzungs-Quiz an: LUL steht für Low Underground Logic – auf Deutsch: Untergrund-Erkennung. Und wenn eine Fahrwerks-Elektronik so etwas kann und daneben noch LAC (Load Adaptive Control, Ladungs-Schwerpunkterkennung), ROM (Roll-Over-Mitigation, Überrollschutz), LAC (Enhanced Understeering Control, Untersteuerkontrolle) sowie mit Anhänger auch noch TSA (Trailer Stability Assist, Anhängerstabilisierung), dann haben wir es mit dem elektronischen Traktions-System von Daimler zu tun, kurz 4ETS. Klingt also erst mal furchtbar kompliziert, macht aber vieles einfacher.

Die mechanische Seite des Vito-Allradantriebs gestaltet sich durch die elektronischen Helfer denn auch beinahe schon simpel. Wir haben es zu tun mit: einem längs eingebauten Motor, daran angeflanscht die neueste Version der Mercedes-7G-Tronic-Plus-Automatik und daran wiederum direkt angeschraubt und mit gemeinsamem Ölkreislauf das neue Verteilergetriebe für vorne/hinten. Letzteres – und das ist neu – leitet die Antriebskraft für die Vorderachse schräg zum vorderen Achsgetriebe (siehe auch Grafik), was ein weiteres Kreuzgelenk erspart. Vorne verteilt wiederum ein einfaches Differenzialgetriebe ohne mechanische Sperre die Antriebskraft links und rechts an die Vorderräder. Hinten funktioniert das Ganze genauso: keine mechanischen Sperren, das Antriebsmoment wird per Bremseingriff an den einzelnen Rädern weitergeleitet.

Mercedes-Benz Vito 119 CDI 4x4 Einstieg
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Ein hoch intelligenter Allradantrieb also, der trotz permanenter Tätigkeit kaum Fahrleistung kostet (199 km/h Höchstgeschwindigkeit statt 206 km/h beim 4×2 ). Den Mehrverbrauch im Vergleich zur heckangetriebenen Variante gibt Mercedes mit 0,6 l/100 km an. Für uns überraschend ist auch der tatsächlich im Test erzielte Verbrauch von 6,6 l/100 km über die bd-Gesamtrunde. Zu Recht reklamiert Mercedes also bis zu 27 Prozent weniger Spritverbrauch gegenüber den Vorgängermodellen. Möglich macht diesen Riesenschritt die Einführung der selektiven katalytischen Reduktion (SCR) zur Einhaltung der Euro-VI-Abgaswerte. Dabei reduziert das Einspritzen einer wässrigen Harnstofflösung (AdBlue) in den Abgaskanal die Stickoxide. Das wiederum erhöht den Wirkungsgrad der Euro-VI-Diesel ganz erheblich, was sich in deutlich gesunkenen Verbrauchswerten wiederspiegelt. Der Verbrauch an AdBlue hält sich dabei in Grenzen: Unser Test-Vito verdampfte ziemlich genau einen Liter AdBlue auf 1.000 km oder 0,1 l pro 100 km. Das entspricht 1,5 Prozent des Dieselverbrauchs. Und das ist extrem wenig, wenn man weiß, dass beim schweren Lkw der AdBlue-Verbrauch zwischen fünf und acht Prozent des Dieselverbrauchs liegt.

Gut für den Alltags-Gebrauchswert: Der Vito 4×4 behält seine Tiefgaragentauglichkeit mit unter 2 m Gesamthöhe. Der Einstieg ist deutlich niedriger als beim Konkurrenten VW T6. Allerdings beengt bei unserem Kastenwagen die weit nach vorn ragende Laderaum-Trennwand nicht nur die Einstiegshöhe, sondern auch den Verstellbereich des Sitzes nach hinten. Fahrer über 1,80 m haben Probleme, hier eine bequeme Sitzposition zu finden.

Mehrkosten für Allradvergnügen machen Sinn

Zunächst nur mit 190-PS-Motor erhältlich (weitere Motorisierungen folgen), ist der Allrad-Vito nun auch für die 163- und die 136-PS-Version des 2,1-Liter-Vierzylinders zu haben. Und beim Allrad kommt stets die 7G-Tronic-Wandlerautomatik zum Einsatz. Das verteuert das Allradvergnügen zwar um gut 2.000 Euro, ist aber sinnvoll: Mit Automatik kann es keine verbrannte Kupplung geben, sie arbeitet zudem hoch effizient und drehzahlsenkend – dank großer Spreizung.

Beeinflussen lässt sich die Gangwahl manuell am Lenksäulen-Schalthebel oder über die Schaltpaddel am Lenkrad. Das ist anfangs gewöhnungsbedürftig, weil die linke Hand nur runter, die rechte nur raufschalten kann. Schade auch: Greift man einmal manuell ein, bleibt die Automatik im manuellen Modus. Andere Systeme gehen nach einer gewissen Zeit selbständig wieder in den Automatik-Modus. Der Vito nicht, und das nervt auf Dauer – bitte abstellen.

Mercedes-Benz Vito 119 CDI Allradantrieb

Voll garagentauglich

Einen schlankeren Allrad gibt’s kaum: Die schräg nach vorne laufende Antriebswelle für die Vorderachse ist ein Unikum. Mechanische Quersperren gibt es nicht mehr, den Momentausgleich links/rechts erledigt jetzt der einzeln gesteuerte Bremseingriff auf jedes einzelne Rad. In Längsrichtung vorne/hinten sperrt eine Lamellenkupplung bis zu 70 Prozent. Insgesamt baut der Allradantrieb des Vito nur 2 cm höher als sein Pendant bei der 4×2-Version. Die Garagentauglichkeit bleibt also voll erhalten.

 

Natürlich hängt Traktion in allen Lebenslagen nicht nur vom richtigen Antrieb ab, sondern auch von griffigen Reifen. Sind gar Winter- oder Ganzjahresreifen aufgezogen, kennt der Allrad-Vito kaum Grenzen, so lange man seine normale Bodenfreiheit berücksichtigt. Traktionsmäßig kann ihn kaum etwas erschüttern. Zehn Prozent Steigung mit Schotter und Schnee als Untergrund: kein Thema. Interessanter ist die Frage: Eie kommen wir da wieder heil runter? Das geht einfach mit Downhill Speed Regulation (DSR). Per Knopfdruck aktiviert, sind kurzzeitige, kaum spürbare Blockaden der Vorderräder gewollt. So baut sich ein Bremskeil vorm Reifen auf, der die Bremsarbeit unterstützt.

Abgeschaltet bedeutet nicht deaktiviert

Ähnlich raffiniert die Auslegung des ESP: Grundsätzlich gilt, dass selbst ein manuell abgeschaltetes ESP nie komplett deaktiviert ist. Nur die Regelschwellen werden je nach gefahrener Geschwindigkeit verändert. Bis 40 km/h steht absolut die Traktion im Vordergrund, da darf ein Rad schon mal Schlupf haben und im Untergrund mahlen. Schließlich geht es darum, in Bewegung zu bleiben. Zwischen 40 und 80 km/h werden Traktion und Fahrstabilität gleichermaßen berücksichtigt, oberhalb dieses Bereichs hat die Fahrstabilität Vorrang. Die Übergänge zwischen diesen Regelbereichen sind fließend.

Gut auch, das die Mercedes-Allrad-Spezialisten die Momentverteilung mehr zu Gunsten der Vorderachse verschoben haben: 45 Prozent des Antriebsmoments erreichen jetzt die Vorderachse, 55 Prozent die Hinterachse (früher 33 zu 67 Prozent). Das begünstigt die Traktion bei Leerfahrt oder nur teilbeladenem Fahrzeug. Und sollte doch mal eine Längssperre nötig sein, weil entweder vorne oder hinten auf beiden Seiten nichts mehr geht, sorgt eine vorgespannte Lamellenkupplung für eine bis zu 70-prozentige Sperrwirkung in Längsrichtung.

Mercedes-Benz Vito 119 CDI 4x4 verlängertes Heck
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Ganz klar ist der Vito 4×4 prädestiniert für den Anhängerbetrieb, erst recht mit dem solo fast schon unterforderten 190-PS-Motor. Mit 2.000 kg Standard-Anhängelast ist Mercedes allerdings recht vorsichtig. Aber: Auf Wunsch und mit verstärkter Anhängerkupplung sind bis zu 2.500 kg drin, das maximale Gesamt-Zuggewicht liegt bei 5.550 kg. Egal, ob mit einer Hebebühne, einem schweren Kompressor oder einem Minibagger am Haken: In der Allrad-Spielart kommt man mit dem Vito jederzeit souverän voran. Es mag günstigere Drei-Tonnen-Transporter geben – aber keiner verbindet sichere Traktion, Komfort und extrem niedrigen Verbrauch so wie der Vito 4×4.