Techniktest 6/2022

Vorteile und Nachteile von Mirror-Cams

Spiegel-Ersatzsysteme erobern langsam den Markt. Die sogenannten Mirror-Cams haben viele Vorteile und nur wenig Nachteile. Einig sind sich alle Nutzer nur darüber, dass der Monitor als Spiegel-Ersatz anfangs ziemlich gewöhnungsbedürftig ist.

MAN Mirror-Cam
MAN setzt die Idee des Spiegelersatzsystems konsequent durch: Alle Spiegel sind durch Kameras ersetzt. Das verbessert die Aerodynamik und minimiert Windgeräusche. Ganz zu schweigen von Zusatzfunktionen wie Zoomeffekten, verbesserter Sicht bei Gegenlicht und Dunkelheit sowie Überwachungsfunktion während der Übernachtung. (Bild: MAN)

Der deutsche Begriff Spiegel-Ersatzsystem trifft den Kern der Sache nur zur Hälfte. Der Spiegel wird also durch etwas ersetzt, wobei System recht ungenau beschreibt, was ihn tatsächlich ersetzt. Nämlich ein Flachbildschirm und eine Kamera, die ihr Bild auf ebendiesen überträgt. Präziser ist also Mirror-Cam – oder eben Spiegel-Kamera. Um einmal genauer einzugrenzen, was eine Mirror-Cam können muss, um draußen im Einsatz sofort akzeptiert zu werden, haben wir uns das MAN-System näher angeschaut und als zweite Meinung die Expertise von Dirk Stranz eingeholt, Mit-Entwickler der Mercedes-Mirror-Cam.

Einig sind sich alle OEMs, die derzeit ein solches System anbieten, dass der Wechsel vom Spiegel zur Kamera mehr Vorteile als Nachteile haben muss – sonst wird es schwierig mit der Akzeptanz. Das aber scheint bei den Anwendern gar nicht mal das Problem. Meine Informanten aus Fernverkehr, Bau und Entsorgung zeigen sich allesamt angetan von der Mirror-Cam, haben aber alle auch hie und da Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge.

Weitwinkel-Modus der Mirror-Cam beim rangieren
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Am häufigsten hört man von Schwierigkeiten beim rückwärts Rangieren. Dabei sollte diese Disziplin doch mit Mirror-Cams viel einfacher ablaufen. Berichtet wird, dass es schwieriger sei, den Zug rückwärts geradeaus zu halten, er leichter mal aus dem Ruder laufe. Für Dirk Stranz ein bekanntes Phänomen, dem Mercedes in der nächsten Generation mit kürzeren Kamera-Auslegern – neben vielen weiteren Verbesserungen – begegnen wird. Der weite Abstand des Kamera-Auges zur Seitenfläche des Trucks sei, so Stranz, die Ursache. Man werde den Kamera-Träger soweit verkürzen wie nur möglich, um genau diesen stark von der Seite orientierten Kamerablick zu minimieren.

Dazu beobachten die Praktiker eine Veränderung der Perspektive: Das Bild auf dem Monitor unterscheide sich nicht nur in Ausschnitt und Farbgebung, sondern lasse die räumliche Tiefe eines Spiegelbilds vermissen. Dies sei aber tatsächlich Gewöhnungs-Sache. Dann falle noch auf, dass nachts die Scheinwerfer von hinten kommender Fahrzeuge flackern als würden sie permanent ein- und ausgeschaltet. Das können die Monitor-Experten leicht erklären: Hier komme es zu unerwünschten Frequenz-Überlagerungen zwischen Bild-Aufbau im Monitor und der LED-Scheinwerfer moderner Fahrzeuge. Zwar sei es möglich, die Bildfrequenzen des Monitors so zu verschieben, dass dieser Effekt aufgehoben werde. Die Arbeits-Bandbreiten der LED-Scheinwerfer seien jedoch zu groß, um hier das ganze Frequenzband abdecken zu können, erläutert Dirk Stranz.

Bei schwierigem Licht besonders stark

Zu den großen Vorteilen der Mirror-Cam gehört die Anpassungsfähigkeit an schwierige Lichtverhältnisse. Wir alle kennen die Blendeffekte, wenn die tiefstehende Sonne von hinten voll in den Spiegel knallt. Eine Kamera kann diesen starken Lichteinfall viel besser abblenden als das menschliche Auge. Oder der Wechsel von hellem Sonnenschein zum schwarzen Tunnel. Auch hier können die Mirror-Cams riesige Hell-/Dunkel-Unterschiede im Bruchteil einer Sekunde ausgleichen – wieder viel schneller als das Auge. Auch bei Regen und Schnee können Mirror-Cams punkten: Von Regentropfen erblindete oder beschlagene Spiegel-Flächen gibt es nicht. Und Schneefall verkraften die beheizten Kamera-Öffnungen viel besser als Spiegel. Gut geschützt im Windschatten der Ausleger setzen sie sich praktisch nie zu. Es ist daher festzustellen: Die optischen Qualitäten der Mirror-Cams übertreffen die Leistungsfähigkeiten des menschlichen Auges auf jeden Fall, wenn es um die Beherrschung starker Hell-/Dunkel-Kontraste geht. Manuelles putzen entfällt komplett.

Etwas Anderes ist die Vermittlung von Perspektive: Hier sehen sich die meisten Anwender beim guten alten Spiegel besser aufgehoben. Obwohl auch dieser Vorteil nur scheinbar und nach einiger Eingewöhnung kompensierbar sei. Denn darauf haben die Entwickler sehr geachtet: Die Größenverhältnisse in der Abbildung dürften sich nicht groß verändern, das Bild im Monitor dürfe den Fahrer zu keinem Zeitpunkt und in keiner Situation überraschen. Wohl der Hauptgrund, dass die Spiegel-Kameras über feste Brennweiten verfügen und keinesfalls über Zoom-Objektive, die ein Objekt über Gebühr vergrößern könnten.

Stattdessen kann die Elektronik aber den Bildausschnitt durch verschieben verändern – etwa wenn der Auflieger beim rückwärts um die Kurve Rangieren oder im Kreisverkehr nun in seiner ganzen Länge samt aller Hinterachsen zu sehen ist. Dieses verschieben des Bildausschnitts nennen die Entwickler Panning. Die Kamera liefert dann immer nur ein sehr weitwinkliges Bild, indem sich der Computer den gerade passendsten Bildausschnitt auswählt. Auf diese Weise verändern sich tatsächlich die Größenverhältnisse nicht. Das erfordert freilich eine hohe Bildauflösung, die heutigen Kameras und Monitore aber problemlos liefern. Naja, nicht ganz so problemlos: Denn die Monitorbilder sind trotz aller Qualitäten bei Weitem nicht so hoch auflösend wie moderne Handy-Bildschirme. Das, so die Experten, wäre zwar machbar, würde aber die Rechenleistung stark erhöhen und/oder die Zeit für den Bildaufbau. Und das gehe ja nun gar nicht: Dass das Bild im Monitor möglicherweise verzögert und nicht in quasi Echtzeit angezeigt wird. Das ist eine Vorgabe der technischen Bauvorschriften nach ECE R 46. Sie regelt nicht nur die maximal erlaubte Verzögerung, sondern auch die Sichtfelder und alle technisch relevanten Vorgaben.

Ein ganz wichtiger Zusatznutzen der Mirror-Cams wiederum sind die Hilfslinien zur Entfernungs-Einschätzung. Und darunter ist die Trailer-Ende-Markierung wiederum die Praktischste. Diese Hilfslinie ist verschiebbar angelegt und lässt sich mit den Tasten im Spiegelverstell-Panel entsprechend einstellen – nicht jeder Auflieger ist ja gleich lang. Das geht einfach, wenn man eine zweite Person ans Trailerende schicken kann. Dort markiert der Helfer, am besten mit den Füßen, das auf den Boden verlängerte Ende des Aufliegers. Die Linie genau dorthin per Tastendruck angelegt, abspeichern, fertig. Beim Rangieren ist diese Linie eine echte Hilfe und kann ärgerliche Bagatellschäden wie gecrashte Rücklichter oder gequetschte Andock-Gummis wirksam verhindern.

Die (meist gestrichelten Linien) darüber markieren dann jeweils einen festen Abstand zum Beispiel zwischen einem hinterher Fahrenden und dem Trailer-Ende. Bei MAN markiert die erste Line 15 m Abstand, die zweite Linie weiter 35 m, sodass zwischen oberster und Trailer-Ende-Linie zusammen 50 m Abstand definiert sind. Peilt man Linie zu Unterkante Fahrerhaus eines Überholten, kann man ziemlich genau den Abstand einschätzen und vermeidet so zu frühes Einscheren und Ärger mit dem Hintermann. Allerdings definiert jeder Hersteller die Abstände seiner Hilfslinien ein wenig unterschiedlich. Die gesetzlich vorgegebenen Abstände jedoch werden auf jeden Fall eingehalten.

Unterschiede gibt es auch in der Klassifizierung der Spiegel-Systeme, also welche Spiegel durch eine Kamera ersetzt werden. Beim Actros praktizierte Mercedes bislang die Klasse 2, also den Ersatz des Hauptspiegels links und rechts. MAN und auch DAF gehen einen Schritt weiter und ersetzen alle Frontspiegel, also auch Weitwinkel- (Klasse 4), Front- (Klasse 5) und Rampenspiegel (Klasse 6). Das bedingt die Zusammenlegung der verschiedenen Kamerabilder auf einen Monitor. Die Bilder werden dabei elektronisch miteinander kombiniert und als ein einziges Monitorbild dargestellt. Bei MAN trennen feine gestrichelte Linien die verschiedenen Kamera-Perspektiven. Und es werden auch nicht immer alle eingeblendet. Je nach Fahrsituation und Geschwindigkeit wird zum Beispiel die Frontspiegel-Ansicht ab etwa 60 km/h ausgeblendet, gezeigt wird dann nur, was sinnvoll und notwendig ist.

So weit, so kompliziert. Viel wichtiger sind für den Praktiker ganz einfache Vorteile der Mirror-Cams. Etwa die verringerte Fahrzeugbreite. Die gefürchteten Spiegelklatscher mit einem entgegenkommenden Truck verlieren so ihren Schrecken und dürften manche Spiegel-Reparatur vermeiden helfen. Ein Fahrer berichtet, dass er mit seinem neuen Actros insgesamt weiter links fahre, einfach um mehr Abstand zur manchmal unbefestigten Bankette zu halten. Einig ist man sich auch, dass die Mirror-Cams nicht nur Windgeräusche deutlich verringern, sondern auch den Luftwiderstand messbar verbessern. Wieviel Spriteinsparung erzielbar ist, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten: 0,5 bis 1 Prozent könnten es schon sein.